Ein Plädoyer, warum man Angst haben muss vor Menschen, die lesen können

Es sind diese Eckdaten, die die Menschheit in ihrer Entwicklung immer wieder einen Schritt weitergebracht haben. Errungenschaften wie der aufrechte Gang, die Entdeckung des Feuers oder die Sesshaftigkeit mit der Fähigkeit zum systematischen Ackerbau oder die Domestizierung von Tieren hatten immer auch eine Vergrößerung des menschlichen Gehirnvolumens zur Folge.

Bücher und ApfelEin großer kulturgeschichtlicher Schritt wurde im 4. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien mit der Erfindung der Keilschrift getan. Sie ebnete nicht nur den Weg für die Organisation der Gesellschaft, sondern war auch als Grundlage für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen von unschätzbarem Wert. Neuerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass erste Schritte in Richtung Literatur unternommen wurden. Meist wird diese kulturelle Leistung eher bei den Griechen um 700 v. Chr., wie bei Hesiod, verortet. Die entstehenden Hochkulturen waren sich der Macht der Schrift bewusst und wussten sie für ihre Zwecke zu nutzen. Dabei war es von Vorteil, dass Lesen und Schreiben nur einer privilegierten Schicht vorbehalten war, die aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Herrscherhaus zu den treuesten Gefolgsleuten zählte.
Da die lebensnotwendige Versorgung mit Nahrungsmitteln in der Regel gesichert war, blieb auch Zeit für kriegerische Expansion und für die Entwicklung entsprechender Waffentechnik. Krieg bedeutete aber auch kulturelle Aneignung der überfallenen Nachbarn und damit Wissenstransfer. Die friedliche Variante, der Handel, war oft effektiver und für beide Seiten gewinnbringend, konnte aber unter Umständen ebenso brutal sein.
Am Ende der Bronzezeit bildeten sich aus den bis dahin mündlichen Überlieferungen Weltbilder und Religionen. Dabei spielte auch die Schrift eine wesentliche Rolle, wie immer wieder Funde zeigen, die belegen, dass Gedanken und Wissen auf Papurus gebracht wurden.
In der Spätantike trat an die Stelle der fast freidenkerischen griechischen Philosophie ein „Expertenwissen“, das der einfachen Bevölkerung nicht zugänglich war. Es gab zwar die Schrift und erste hervorragende Schriftstücke, aber lesen konnte nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Mit dem Aufkommen und der Ausbreitung der Araber erstarkte die Wissenschaft und mit ihr ein gewaltiger Schub an neuem Wissen. Überall entstanden Bibliotheken und Schulen, von denen nicht nur die Araber profitierten. Mit dem Zurückdrängen der Araber ging auch wieder viel Wissen verloren und musste teilweise hunderte Jahre später neu erfunden werden. So war es auch nach dem Untergang des Römischen Reiches. Die Römer kannten zum Beispiel den Beton, der erst Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde. Immerhin haben die Römer und die Araber Bücher hinterlassen, aber nur wenige Menschen, auch die es sich hätten leisten können, waren des Lesens mächtig.
Mit Mittelalter waren die Klöster mit ihren Schreibstuben und Bibliotheken der Hort des Wissens, die dem gemeinen Volk unzugänglich waren. Mit einer so vom Wissen ferngehaltenen Bevölkerung hatte man leichtes Spiel und konnte sie gezielt steuern. Ein trauriger Höhepunkt war erreicht, als man seine „Sünden“ gegen Bezahlung wieder gut machen konnte. Kurioserweise verdiente Gutenberg das Kapital für seine berühmten Bibeln mit dem Druck von Ablassbriefen.
Die neue Vervielfältigungstechnik läutete eine Zeitenwende ein. Anders als von der Kirche erhofft. Als ein Mönch mit seinen 95 Thesen die Machenschaften der Kirchenfürsten anprangerte, half ihm der Druck, seine Botschaft zu verbreiten. Martin Luther lag es fern, die Kirche im Allgemeinen zu spalten, er war vielmehr der Meinung, dass verschiedene Missstände einer Korrektur bedurften. Der Klerus, der dies als Bedrohung empfand, erwies Luther einen Bärendienst, der wiederum Luther drohte, so dass ihm nichts anderes übrigblieb, als ins Exil zu gehen. So zur Untätigkeit verdammt, machte sich Luther daran, die Bibel in ein verständliches Deutsch zu übersetzen, um sie auch dem lateinunkundigen Volk zugänglich zu machen. Die so entstandene Lutherübersetzung war nicht ganz unschuldig daran, dass immer mehr Menschen lesen lernten. Zwar blieb die Kunst des Lesens auch mit Beginn der Aufklärung einer elitären Bildungsschicht vorbehalten, doch der Siegeszug war nicht mehr aufzuhalten.
Die Französische Revolution mit ihrem neuen Menschenbild stellte endgültig die Weichen für den Wissenserwerb breiter Bevölkerungsschichten, und doch dauerte es bis ins 19. Jahrhundert, bis die (Knaben-)Schule flächendeckend Einzug hielt.
Es waren auch die Werke von Kant, Rousseau, Hegel und Marx, die dazu beitrugen, unsere Gesellschaft zu verändern. Dies war nur möglich, weil Wissen durch Bücher vermittelt wurde. Bücher sind mächtig, das wissen alte und neue Despoten und erzkonservative Machtmenschen nur zu gut und sind bereit, den Wissenstransfer zu beschneiden.
(TB)

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